Wir schreiben den Herbst 2014. In der Redaktion einer Zeitschrift, deren Schwerpunkte sich ansonsten gerne um Begriffe wie „Neo-Realismus“ oder „Konservative Ästhetik“ kreisen, wird eifrig am Fokus des neuen Heftes gearbeitet. Mitten in die Stille postideologischer Debatten soll ein Paukenschlag gesetzt, der Mut zum Querdenkertum bewiesen werden. Es steht zwar kein Jubiläum an, aber das ist umso besser, kommt man damit doch der Konkurrenz zuvor, indem man Georg Lukács befragt, ihn ins Zentrum rückt, ihn zum „Kommissar Lukács“ macht. Nicht Genosse, nicht Kritiker, Theoretiker, Philosoph, nein, „Kommissar“ muss es sein, in Anspielung auf Lukács‘ unrühmliche Rolle im Jahre 1919.
Die Idee der Redaktion ist zu loben und das Editorial fängt vielversprechend an: „Wer redet noch von Georg Lukács?“ Die intonierte Frage verweist auf eine Reihe anderer, naheliegender Fragen: Ist Lukács noch aktuell? Soll man über ihn noch reden? Was ist an und aus seinem Werk noch aktuell: interessiert „Geschichte und Klassenbewusstsein“ noch, in Zeiten ohne Klassen und ohne Bewusstsein, in Zeiten des Prekariats, des wild gewordenen Liberalkapitalismus? Wie sieht es heute mit der „Zerstörung der Vernunft“ durch irrationale, nationale und (prä/post)faschistische Ideologien und Ideologen aus: lohnt es sich, diesem Opus erneut zuzuwenden, in der Hoffnung, es möge uns in Zeiten von AfD und Pegida etwas sagen? Oder was ist mit Lukács‘ Ästhetik: eignet sie sich als Richtschnur? So ließen sich die Fragen noch weiter aufreihen, die anzeigen könnten, in wie vielen Bereichen das Gesamtwerk von Lukács auf seine heutige Anschlussfähigkeit hin abzuklopfen wäre.
Es gäbe nämlich viel zu sagen und viel zu erzählen über Lukács und sein Werk. Nicht zuletzt eine eigene Biographie wäre vonnöten, von jener Qualität wie sie in dem letzten Jahrzehnt den Großen aus Lukács‘ Heidelberger Zeit, Max Weber und Stefan George, um nur zwei zu nennen, zuteil geworden ist. Auf die Notwendigkeit einer solchen Biographie gelebten Denkens wird im Editorial zu Recht hingewiesen. Doch vermutlich besitzt niemand (ob in Deutschland oder Ungarn) das intellektuelle Rüstzeug und das Interesse, die Arbeit auf sich zu nehmen. (Eventuell jemand von der Internationalen Georg Lukács Gesellschaft?)
Dieser Mangel an kompetenten und das Gesamtwerk souverän überblickenden Deutern, der die Struktur- und Konzeptlosigkeit auch dieses Heftes wohl mit bedingt, führt dann zu solchen Ergebnissen wie dem vorliegenden. Rundheraus gesagt: das Heft ist eine Enttäuschung. Daran ändern auch positiv flankierende Einlassungen des Feuilletons nichts.**
„Feuilleton“ ist dabei das beste Stichwort um das Niveau des Heftes zu beschreiben. Dabei sei vorweg geschickt, dass der Rezensent „Feuilletons“ gerne liest, mögen sie in Frankfurt oder auch in Hamburg entstehen. Von einer „Zeitschrift für Ideengeschichte“ erwartet er aber Ideen, historische Fundierung und ein inhaltliches Zeitschriftenniveau, das ob der theoretischen Durchdringung des behandelten Stoffes über dem eines Feuilletons liegt. Die vorliegende Ausgabe der Zeitschrift erreicht aber allenfalls den Level eines Feuilletons. Sicher, von so manchen Texten, ist mehr nicht unbedingt zu erwarten. Der kurze Beitrag von Ágnes Heller (geb. 1929) ist ein hübsch zu lesender Text mit einigen interessanten Angaben über ihre Beziehung zu Lukács. Interessanter sind da jene Briefe, die sie zwischen November 1956 und April 1957 mit Lukács wechselte, der nach dem gescheiterten Aufstand von 1956 nach Rumänien verschleppt wurde. Der Briefwechsel betrifft das Schicksal von Manuskripten, Vorlesungsthemen von Heller und fachbezogene Pläne. Doch weltbewegend, ein Paukenschlag, sind sie nicht.

(Lukács‘ Arbeitszimmer in Budapest)
Es finden sich zwei Gespräche im Heft, eines mit Fritz J. Raddatz und eines mit Iring Fetscher. Philosophische Tiefe, Einschätzungen bezüglich der Aktualität von Lukács Werken (und worin diese liege) finden sich leider in keinem der beiden. Stattdessen geht es darum, wer wann und warum mit Lukács in Kontakt trat, welchen Eindruck er auf Raddatz und Fetscher machte usw. Dabei geht Raddatz teilweise hart mit Lukács‘ Urteilen über die Literatur ins Gericht. Natürlich lesen sich die Gespräche interessant, aber kaum gelesen so verflogen: inhalt- und gehaltloses Insidergeschwätz.
Fundstücke aus dem Lukács-Archiv in Budapest – der Ausdruck, mit dem vielleicht der Voyeurismus von Lukács-Fans bedient werden sollte, verspricht mehr als er halten kann. Es handelt sich bei diesen „Fundstücken“ teilweise um kleine Fotografien aus den schon veröffentlichten Tagebuchseiten von 1910/11 oder Lukács‘ Manuskript der „Theorie des Romans“. Ein Brief Raddatz‘ an Lukács und dessen Antwort, eine Anfrage des jungen Marcel Reich-Ranicki von 1967, in der er dem Literaturkritiker huldigt, behauptend, er habe von niemandem sonst so viel gelernt wie von Lukács… Ein Brief von Karl Löwith an Lukács mit der Bitte um die Zusendung eines Aufsatzes.
Dann, am Ende des Schwerpunktes, das Versprechen geistigen Genusses: zwei Aufsätze! Im ersten untersucht Matthias Bormuth unter dem Titel „‚Nervosität, Ressentiment, Hass‘ Karl Jaspers begutachtet Georg Lukács“ die Beziehung beider Denker zueinander. Im Mittelpunkt steht die zunehmende Entfremdung und gegenseitige Ablehnung, wobei für diese eindeutig Lukács verantwortlich gemacht wird. Während Jaspers dem Ungar im Ersten Weltkrieg mit einem psychologischen Gutachten behilflich war (die beiden kannten sich in Heidelberg aus dem Weber-Kreis), diffamierte Lukács Jaspers und dessen Existentialismus als geistige Vorläufer des Nationalsozialismus. Nur die biografischen Verwicklungen hätten es verhindert, so Lukács, dass Jaspers Heidegger und dessen NS-Engagement gefolgt wäre. Jaspers stand dieser vehementen Kritik fast wort- und verständnislos gegenüber. Dabei, so Bormuth, gingen beider Philosophien auf ein, zur gleichen Zeit, nämlich um 1910, gehabtes „Ursprungserlebnis“ zurück, die Entdeckung Sören Kierkegaards (S. 50). Den Nachweis dessen, wie man aus Kierkegaard diese gegensätzlichen Philosophien ableiten könne, bleibt Bormuth dem Leser jedoch schuldig. Endlich mal eine neue und frische Idee, doch sie wird dann nicht vertieft, nörgelt der Rezensent, denn die ganzen, bislang zitierten Briefwechsel sind längst ediert und allseits ebenso bekannt wie die berühmte 46er Konferenz. Interessanter ist dagegen der Vergleich Lukács‘ mit Plessner. Joachim Fischer liest in seinem Aufsatz Lukács‘ „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (1923) parallel zu Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924). Fischer argumentiert dafür, Plessners Schrift als eine bürgerliche Antwort, als Gegenentwurf und Gegenprogramm, auf bzw. zu Lukács‘ Buch zu begreifen. Die Entfremdung und Verdinglichung aber, welche Lukács durch die Arbeiterschaft überwinden lassen will, kann laut Plessner nur durch eine Gesellschaft von selbstbewussten Individuen abgeschafft werden. Während Lukács einer Gemeinschaft das Wort redet, ergreift Plessner zugunsten einer liberalen und bürgerlichen Gesellschaft Partei. Mächtig war sodann die Nachwirkung beider Werke: Lukács‘ Einfluss ging über die Kritische Theorie, während Plessner bei der Formierung der deutschen Soziologie nach 1945 und etwa über Personen wie Dieter Claessens einflussreich war. Und auch wenn es seit 1989 so aussieht, als sei Lukács‘ Diagnose und Modell obsolet geworden, kommt dennoch seiner Beschreibung bürgerlicher Zwangsverhältnisse eine große Rolle zu, will man aktuelle Lebenssituationen gesellschaftskritisch deuten. Die Wirkungsgeschichte beider Werke und beider Denker sei somit offen, schließt Fischer seinen fundierten und anregenden Aufsatz.
Fischers Aufsatz vermag jedoch insgesamt nicht über die Enttäuschung zu trösten, die das Heft verursacht hat. Die Redaktion hat mit ihrem Appetizer Recht, wenn sie fragt: „Warum ist es so still geworden um ihn, der jahrzehntelang die Gemüter erhitzte?“ Doch wird weder diese Frage beantwortet, noch schlüssig dargelegt, warum sich an dieser Stille etwas ändern sollte. Allenfalls das Fazit Fischers hält hierzu einen Querverweis bereit, das ist aber eindeutig zu wenig bei einem so schillernden Werk und Philosophen wie Lukács es war. Da der Lukács-Schwerpunkt weder ein Hauptthema (z.B. Der junge Lukács, Lukács als Literaturkritiker, Lukács als Marxist, Lukács als Ästhet, Lukács als Zeitdiagnostiker, Lukács als Politiker, Lukács als Verfolger bürgerlicher Denker in den Spätvierzigern usw.) noch einen roten Faden besitzt, ist dieser Fokus auf Lukács wie die Einladung zu einer reich und vielfältig gedeckten Tafel: man darf aber nur vier-fünf Löffelchen von der Vielzahl der Vor- und Hauptspeisen sowie Desserts probieren. Hinterher kann man sagen, man sei dabei gewesen, muss aber zugeben, der Hunger sei dabei noch größer geworden. So beschließt auch der Rezensent diesen Beitrag mit dem Fazit, er habe das Heft gelesen, sei auf vieles neugierig geworden, über Lukács habe er aber kaum Substantielles bzw. Neues erfahren.
* Kommissar Lukács. Zeitschrift für Ideengeschichte Heft VIII/4 Winter 2014. 127 S.
** Alexander Cammann: „Teurer Genosse Lukács“. In: Die Zeit, 30. 12. 2014, S. 48.